Vielfalt sozialistischen Denkens
Vor 100 Jahren erschien ein Buch, das rasch Aufsehen erregte, allseits gepriesen und von manchen sogar in den Rang der einzigen gelungenen Fortsetzung des Marxschen „Kapital“ erhoben wurde: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus von Rudolf Hilferding. Das Buch, fast 500 Seiten stark in der Erstausgabe, erschien gut drei Jahre nach dem Ausbruch der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 1907, der schwersten Erschütterung, die das kapitalistische Weltsystem in der Zeit der langen Prosperität und des Hochimperialismus vor dem ersten Weltkrieg erfuhr. Rudolf Hilferding schrieb das „Finanzkapital“, das die neuen Erscheinungen des Kapitalismus, die sich in den Jahren der Großen Depression von 1873 bis 1895 herausgebildet hatten, wissenschaftlich erklären und in den richtigen Zusammenhang stellen sollte, durchaus in politischer Absicht – ein Abschnitt des Buchs handelt von der „Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals“, das letzte (25.) Kapitel vom „Proletariat und dem Imperialismus“. Hilferdings Finanzkapital, geschrieben in einer Epoche der „Globalisierung“ und der Dominanz des internationalen Bank- und Börsenkapitals, hat die Theorie der kapitalistischen Entwicklung nachhaltig beeinflusst – nicht nur unter den Marxisten.
In dieser Veranstaltung wollen wir uns die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Hilferdingschen „Finanzkapital“ vergegenwärtigen. Es geht um die hochaktuelle Frage, wie man – gestern wie heute – die Phänomene der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus stimmig auf den (Marxschen) Begriff bringen kann und was aus einer solchen Übung folgt. Der spannenden Frage, was denn „Finanzkapital“ heute, im Unterschied zur Zeit vor dem ersten Weltkrieg, bedeutet, ob und wie die Hilferdingsche Begrifflichkeit zu modifizieren ist, um die gegenwärtige Periode der Dominanz des „Finanzkapitals“ zu verstehen, werden wir natürlich nicht aus dem Weg gehen.
Referent: Prof. Dr. Michael R. Krätke
Moderation: Frank Engster