Konferenz
Georg Lukács ist einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Er hat die Umbrüche dieses Jahrhunderts begleitet und sie in Philosophie und politischer Theorie, in Ästhetik und Literatur, aber auch in seinem politischen Handeln verarbeitet. Sein epochemachendes Werk Geschichte und Klassenbewußtsein war nichts weniger als die Initialzündung des sogenannten Westlichen Marxismus und strahlte aus in die Kritische Theorie, die Praxisphilosophie und den Humanistischen Marxismus; durch seine Theorie des Romans und die Ausarbeitung einer marxistischen Ästhetik wurde er ein Klassiker der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts.
Zum 50. Todestag will die Konferenz die großen Ereignisse und Strömungen in Politik, Ästhetik & Literatur und Philosophie des 21. Jahrhundert mit Lukács‘ Biographie und ihren Wendepunkten ins Verhältnis setzen – mit einer Biographie, die das gesamte „kurze 20. Jahrhundert“ (Hobsbawm) auch im persönlichen Werdegang in seinen (Um-)Brüchen und Spannungen durchmessen hat.
Die Konferenz ist in die drei Panels Politik, Wahlverwandtschaften sowie Ästhetik & Kunst gegliedert.
Ein internationales Panel behandelt die Wirkungsgeschichte und die aktuelle Rezeption in seinem Heimatland Ungarn sowie in zwei Regionen, in denen Lukács inzwischen ungeheuer wirkungsmächtig geworden ist, nämlich China und Brasilien.
Zum Abschluss gibt es zwei Abendvorträge von Axel Honneth und Michael Löwy.
Bereits vom 1. bis zum 3. Juni findet im Brecht Haus eine Konferenz zum 50. Todestag statt, in der es vor allem um Lukács und Theater, Literatur und Ästhetik gehen wird.
Die Konferenz wird live gestreamt, dazu einfach den oben angegeben Link anklicken.
In Kooperation mit der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft, dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie dem tak Theater Aufbau Kreuzberg und der Stiftung Kommunikationsaufbau, dem Prince Charles und dem Bechstein Network.
10:00 Begrüßung durch Matthias Koch, Geschäftsführer des Aufbau Haus
Christoph Links, Zur Bedeutung von Georg Lukacs für den Aufbau Verlag
10.15–12.00 Uhr
1. Panel. Politik. Theorie, Praxis und Revolution.
Moderation: Patrick Eiden-Offe
Georg Lukács – ein "organischer Intellektueller"?
Bei aller Begeisterung für die Tiefen der Lukács‘schen Interpretation und Weiterentwicklung des Marxismus und seine ästhetischen Theorien der späten Jahre bleibt das Spannende seines Wirkens seine Verbindung von Theorie und Politik, und dies auch im praktischen politischen Geschäft: Als stellvertretender Volkskommissar der Ungarischen Räterepublik und Politkommissar, als Funktionsträger in der kommunistischen Bewegung, als Stichwortgeber im ideologischen Kampf gegen den Faschismus und dessen geistigen bürgerlichen Wegbereitern. Nicht selten findet Lukács sich jenseits seiner politischen Funktionen und seiner erzwungenen oder überzeugten Selbstkritiken nicht nur von der Konterrevolution, sondern auch den vermeintlich eigenen Genossen bedrängt und bedroht. Und doch blieb er immer der Gleiche: Der Verräter seiner Klasse, der sich als Intellektueller einer neuen Klasse, der Arbeiterklasse und ihrer politischen Organisation, verschrieben hat für eine sozialistische, demokratische, aber auch wehrhafte Gesellschaft. Ein Stichwortgeber und Anreger, der im Unterschied zu manchen Adepten aber immer wusste, wo er im Systemkonflikt, im Klassenkampf stehen musste – auch wenn es schwerfiel.
Dr. Stefan Bollinger, Politikwissenschaftler und Historiker, Stellvertretender Vorsitzender Helle Panke.
Das Klassische bei Marx und Lukács: die Schnittstelle von Ökonomie und Politik
Lukács wurde zum Klassiker durch Geschichte und Klassenbewußtsein – aber diese Aufsatzsammlung ist bereits eine Aktualisierung derjenigen Aufgabe der Kapitalismuskritik, die das eigentliche "Klassische" ist. Diese Aufgabe beherrscht bereits Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und ist ihr durchgehendes und bis heute ungelöstes Problem geblieben: Die Arbeit und ihr Subjekt werden ökonomisch durch das Kapital vergesellschaftet, aber das muss in der Klasse politisch angemessen zu Bewusstsein kommen und, ineins, zu einer Art Selbstnegation und revolutionären Selbstüberwindung werden. Lukács' Konzeption beschließt die Reihe Lenin und Luxemburg, und sie eröffnet zugleich eine neue Sequenz, die von Bloch und Benjamin bis zum Operaismus Mario Trontis führt.
Dr. Frank Engster, Helle Panke Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Autor von Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit.
Mit Geschichte und Klassenbewusstsein gegen neoliberale Denkpanzer
Lukács zufolge reicht es nicht die Theorie allein zu studieren, man muss
sie auch praktizieren. Was könnte das heute, umkreist von
Neoliberalismus, den Algorithmen der „sozialen“ Medien und den
allgegenwärtigen Punkte-Sammel-Aktionen, bedeuten? Welche Waffen stellt
„Geschichte und Klassenbewusstsein“ bereit und wie lässt sich mit Rosa
Luxemburg vielleicht noch die Schlagkraft erhöhen? Eine kurze Überlegung
in Andeutungen. Oder: Mit Büchern auf die Verhältnisse werfen!
Luise Meier, Autorin von MRX Maschine, ist Theatermacherin und Autorin.
15 Minuten Pause
12:15–13:30 Uhr
2. Panel. Internationales Online-Panel: Lukács in Ungarn, China und Brasilien Moderation: Rüdiger Dannemann
Die Lukács-Rezeption in Brasilien
Thema ist die Ankunft von Lukács in der brasilianischen Debatte und ihre Wege und Abwege: Von den Intellektuellen, die auf der Flucht vor dem NS nach Brasilien eingewandert sind, über den Aufbruch der 1960er Jahre, in dessen Zuge auch in Brasilien Lukács von einer Generation junger Studierender für eine andere, gegen die Militärdiktatur gerichtete Kulturpolitik angeeignet wurde, bis zum Verblassen solcher Debatten in den 80er und 90er Jahren und ihrem Wiedererstarken in den späten 2000er Jahren, verstärkt nach der Krise von 2008. Dies ist der historische Weg zur zeitgenössischen Lukács-Diskussionen in Brasilien, die sich auf die ontologischen, politischen und moralischen Fragen seines Spätwerk konzentrieren, insbesondere auf seine Ontologie des gesellschaftlichen Seins, die kürzlich ins Portugiesische übersetzt wurde.
André Brandão, (Bahia), lehrt Philosophie in Bahia und forscht im Rahmen eines Post-Graduate Programms zum späten Lukács und dessen Frage zu Moral, Manipulation und Ontologie des Alltagslebens an der Universidade Federal da Bahia.
Lukács und Ungarn
Der Vortrag untersucht, wieso in Ungarn, zugespitzt formuliert, von Lukács oft nur diejenigen Vorurteile überlebt haben, die ihn schon zu Lebzeiten umgaben. Die Frage wird sein, wie sehr ein Denker seiner Nachwelt ausgeliefert ist, vor allem dann, wenn die Nachwelt nicht besonders gewillt ist, ihre Fragen an sein Denken aufrichtig zu stellen.
Dr. Miklós Mesterházi, früherer Mitarbeiter des Georg-Lukács-Archiv in Budapest, Mitglied im Kuratorium der Internationalen Stiftung Lukács Archiv (LANA), Verfasser u.a von Studien über Geistes- und Geschichtsphilosophie, Kant und Lukács.
Lukács im China des 21. Jahrhunderts
Georg Lukács gilt in China als einer der am meisten rezipierten Denker des 20. Jahrhunderts, dessen Rezeption auf eine fast hundertjährige Geschichte (von 1935 bis heute) zurückgeht. In den letzten Jahren gab es in China zudem eine Renaissance der Lukács-Forschung. Der Beitrag befasst sich anhand der bibliometrischen Daten aus dem Chinese Social Science Citation Index (CSSCI) mit der Frage, welche Schwerpunkte und Tendenzen es in der chinesischen Lukács-Forschung im 21. Jahrhundert gibt und welchen Stellenwert der ungarische Philosoph für die Erneuerung und Weiterentwicklung der modernen chinesischen marxistischen Forschung hat.
Prof. Liang Zhang, Professor der Philosophischen Fakultät an der Universität Nanjing, Prodekan der Graduate School der Universität Nanjing, Vizevorstand des Komitees für Lehre der Universität Nanjing.
13.30 Uhr – 14.30 Uhr Mittagspause
14.30 – 16.15 Uhr
Panel 3. Wahlverwandtschaften. Situationistische Internationale, Frankfurter Schule und 68er Studentenbewegung
Moderation: Patrick Eiden-Offe
Georg Lukács, die Frankfurter Schule und die Geschichte der marxistischen Philosophie (Umwege und Paradoxien der Rezeption)
Lukács gehört zu den wichtigsten marxistischen Philosophen und den großen intellektuellen Zeugen des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte seines „Gelebten Denkens“ gehört zweifellos zu den widersprüchlichsten, in seiner Widersprüchlichkeit aber gerade interessantesten Rezeptionsgeschichten der jüngeren Vergangenheit. Dennoch ist bislang noch keine umfassende Geschichte der Rezeption seines Werks geschrieben worden. Das ist kein Zufall. Der vorliegende Beitrag stellt sich das bescheidene Ziel eines skizzenhaften Entwurfs im Sinne einer Momentaufnahme, die darauf wartet, fortgeführt und in ihrer zeitgenössischen Relativität eingeordnet zu werden.
Dr. Rüdiger Dannemann, Vorsitzender der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft, Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs. Autor von Das Prinzip Verdinglichung.
Spectacular Contemplation: Lukács Einfluss auf die Situationistische Internationale (Vortrag auf Englisch)
Lukács' Theorie der Verdinglichung hatte ungeheuren Einfluss auf die kritische Theorie der L’Internationale Situationniste (SI). SI-Haupttheoretiker Guy Debord und dessen Theorie einer Gesellschaft des Spektakels haben das Konzept der Verdinglichung in ihre Kritik einer Gesellschaft überführt, die von der sozialen Form der Ware und ihrem Fetischcharakter beherrscht wird. Der Beitrag untersucht den Einfluss von Lukács auf die SI, identifiziert gemeinsame Themen und hebt zugleich die wichtigen Unterschiede in ihrem jeweiligen Verständnis des Phänomens der Verdinglichung hervor.
Dr. Eric-John Russell, lehrt an der Universität Paris 8, Autor von Spectacular Logic in Hegel and Debord. Why Everything is as it Seems.
Die Lukács-Rezeption in der deutschen 68er Bewegung
Die westdeutsche Studentenrevolte ist auch eine facettenreiche Revolte im Bereich der Theorie gewesen. Was die Aneignung von Lukács’ betrifft, so stand die Auseinandersetzung mit Geschichte und Klassenbewusstsein im Mittelpunkt. Der Vortrag untersucht, warum die 68er Bewegung gerade diese Schriftensammlung knapp 50 Jahre nach Erscheinen für sich entdeckte.
Dimitra Alifieraki unterrichtet Griechisch als Fremdsprache und teamt Kapital-Lesekreise in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihre Masterarbeit in Philosophie untersucht die Bedeutung von Althussers strukturalem Marxismus und Hegels Wesenslogik für das Verständnis von Marx' Werttheorie.
16.15 – 16:45 Pause
16:45 – 18 Uhr
Panel 4. Ästhetik und Literatur. Kunst und Verbrechen
Moderation: Patrick Eiden-Offe
Dialektik des Verbrechers. Lukács’ Zweite Ethik und Der junge Hegel
Als einen „Brennpunkt“ der Widersprüche macht Lukács in der 1938 verfassten Schrift Der junge Hegel die sogenannte Dialektik des Verbrechers aus. Die in den Frühschriften Hegels identifizierte Dialektik kreist dabei um die Kategorien von Recht, Schicksal und Gewissen. Lukács kritisiert vehement den Mystizismus der frühen Auffassung Hegels sowie ihr Verbleiben auf dem Boden der bestehenden Verhältnisse. Allerdings finden sich in Lukács’ frühem Dostojewski-Projekt einige damit in frappierender Weise übereinstimmende Überlegungen zum Verbrecher. Der Vortrag will den Spuren dieser Korrespondenzen nachgehen und nach ihrer Bedeutung innerhalb der intellektuellen Biografie Lukács’ fragen.
Dr. Philipp Weber, Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. 2018 Gastwissenschaftler am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Forschungsschwerpunkte sind Poetologien des Wissens, Europäische Romantik, Literatur und Philosophie.
Die Besonderheit als Zentralkategorie von Georg Lukács' später Ästhetik
In seinen späten Schriften Die Eigenart des Ästhetischen und Über die Besonderheit als Kategorie des Ästhetischen entwickelt Lukács systematisch das Fundament seiner Ästhetik, deren Zentralkategorie die Besonderheit bildet. Lukács bestimmt mithilfe dieser Kategorie den eigenen spezifischen Erkenntnismodus der Kunst, der sich von dem der Wissenschaft unterscheidet, diesem aber nicht untergeordnet ist, sondern der Kunst ihren eigenständigen Erkenntnis- und Wirkungsbereich zuweist. Der Vortrag möchte diese in der Lukács-Forschung bislang wenig beachtete Kategorie im Umriss darstellen.
Kristin Bönicke, studiert Philosophie und Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin. Sie arbeitet zu Themen der philosophischen Ästhetik, insbesondere zu Hacks, Lukács und Holz.
Was ist realistische Gegenwartsliteratur?
Taugt Georg Lukács' Realismusbegriff noch für Gegenwartsliteratur? Lukács' berühmt-berüchtigter Antimodernismus, "Erbe"-Kanon und literarische Vorbilder wie Thomas Mann scheinen sein Verständnis von Realismus fest im Roman des 19. Jahrhunderts zu verankern. Dieser Vortrag liest Lukács anders, indem er seine Realismus-Essays der 1930er Jahre und Geschichte und Klassenbewusstsein mit wertformtheoretischen Neulektüren von Marx verbindet. Das Ziel ist es, eine am Erfassen der Totalität orientierte materialistische Realismuskonzeption für die Gegenwart zu skizzieren.
Dr. Jette Gindner, lehrt an der Yale University. Arbeitsschwerpunkte sind Literatur und Film, Realismustheorien, Marxsche Wertformtheorie
18–19 Uhr Pause
19 Uhr. Abendvorträge
Axel Honneth: Lukács‘ Gratwanderung zwischen philosophischem Argument und parteilichem Engagement
Axel Honneth ist Professor an der Columbia University, NY und war Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt/M.
20 Uhr
Online. Michael Löwy: Lukács on Hölderlin and Thermidor
Michael Löwy ist emeritierter Direktor für Sozialwissenschaften am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und lehrt an der École des Hautes Études en Sciences Sociales.
Moderation: Rüdiger Dannemann
In der ungarischen Mérce ist ein Konferenzbericht erschienen.
Die junge Welt hat es so gesehen.
Die Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung hat in der Nr. 127 einen ausführlichen Konferenbericht veröffentlicht:
190 Z - Nr. 127 September 2021
„Georg Lukács im 21. Jahrhundert“
Live-Stream Konferenz zum 50. Todestag, Berlin, 4. Juni 2021
Pünktlich zum 50. Todestages von Georg Lukács fanden Anfang Juni zwei Tagungen in Berlin statt: „Georg Lukács und das Theater“ im Brecht-Haus und „Georg Lukács im 21. Jahrhundert“. Um letztere, am 4. Juni im Aufbau-Haus, organisiert von Helle Panke e.V. in Kooperation mit der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft, dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, soll es im Folgenden detaillierter gehen.
Es geht um die Frage, wie man hierzulande mit dem marxistischen Klassiker Lukács umzugehen gedenkt. Denn ein Jubiläum allein schafft noch keine lebendige Auseinandersetzung. Fragt man nach Lukács im 21. Jahrhundert, muss man über den deutschsprachigen Raum hinausblicken, denn wie die marxistische Linke befinden sich auch ihre großen Denker hierzulande abseits der großen Öffentlichkeit. Mit seinen Schriften kommt man heute selbst bei einem Studium der Literatur und Philosophie kaum mehr in Berührung.
Ein großes Verdienst der Tagung ist, ein internationales Online-Podium zusammengestellt zu haben, bei dem André Brandão aus dem brasilianischen Bahia, Miklós Mesterházi aus Ungarns Budapest und Liang Zhang aus Nanjing in der Volksrepublik China zugeschaltet waren. Nun sind Brasilien und China zwei Länder, in denen die Schriften von Lukács besonders rege rezipiert werden – und in denen auch der politische Marxismus weitaus lebendiger ist als in der Bundesrepublik. Das Interesse an Lukács wachse in der Volksrepublik „wie Bambussprossen nach einem Frühlingsregen“, so Zhang. Dieses poetische Bild wurde eher prosaisch mit Daten, Balken und Diagrammen bestätigt. Auch zwei sich in Vorbereitung befindliche chinesische Werkausgaben lassen erahnen, dass Lukács, wie Zhang betonte, ein wichtiger Teil des dortigen zeitgenössischen Marxismus sei. Die Situation in Brasilien ist deutlich anders, wie Brandão skizzierte, ist die Linke gegenüber den Reaktionären in der Defensive. Doch insbesondere das Spätwerk von Lukács, wie die kürzlich ins Portugiesische übersetzte „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, wird in Brasilien mit großem Interesse gelesen und diskutiert. Warum gerade jenes Werk dort eine Renaissance erlebt, konnte auch Brandão letztlich nicht schlüssig erklären. Vermuten ließe sich jedoch, dass Lukács‘ Versuch einer marxistischen Grundlegung menschlicher Existenz mit Begriffen wie Gegenständlichkeit, Arbeit, Entfremdung, Reproduktion, dem Ideellen und der Ideologie in verschiedenen Weltregionen und Gesellschaftssystemen Gültigkeit beanspruchen kann. Was hingegen Mesterházi aus Ungarn zu berichten wusste, war geradezu deprimierend. Die völlige Niederlage der Linken habe auch dazu geführt, dass Lukács kaum noch Gegenstand einer Bezugnahme sei. Die Rechten haben die bisherigen Räume des Archivs geschlossen und seine Statue demontiert. Lukács verschwindet. Nimmt man diese drei Beiträge aus Brasilien, China und Ungarn einmal stellvertretend, so zeigen sich – etwas vereinfacht dargestellt – die Unterschiede zwischen Europa als einer integrierten kapitalistischen Gesellschaft im Niedergang, Brasilien mit seinen heftigen Klassenauseinandersetzungen und einer sich mit all ihren Widersprüchen entwickelnden sozialistischen Gesellschaft in China. Mit der Annahme, dass entscheidende Impulse in der Auseinandersetzung mit Lukács sowohl philosophisch als auch politisch demnächst eher nicht aus Europa, sondern eher aus anderen Weltregionen zu erwarten sind, dürfte man nicht ganz fehlgehen.
Über das Verhältnis von Theorie und Politik bei Lukács diskutierten Stefan Bollinger, Frank Engster und Luise Meier. Dabei wurde unter anderem nach den Bezügen zu Marx, Luxemburg und Lenin gefragt, aber auch nach den Auswirkungen auf eine neue Generation linker und marxistischer Theoretiker – von Bloch bis Tronti. Die Rezeption von Lukács wurde dann von Rüdiger Dannemann (siehe Z 126) nochmals vertieft. Eric-John Russell versuchte sich daran, den Einfluss von Lukács und insbesondere seiner Verdinglichungstheorie auf Guy Debord und die Situationistische Internationale aufzuklären. Wenn Lukács vom „Zerreißen des Menschen in ein Element der Warenbewegung und in einen objektivohnmächtigen Zuschauer“ schreibt, so klingt dies tatsächlich wie „Die Gesellschaft des Spektakels“ in einem Satz zusammengefasst. Über die deutsche 68er-Bewegung und deren Auseinandersetzung mit Lukács – man denke an die Diskussionsrunde „Geschichte und Klassenbewusstsein heute“ mit Furio Cerutti, Detlev Claussen, Hans-Jürgen Krahl, Oskar Negt und Alfred Schmidt oder Rudi Dutschkes Besuch bei Lukács in Budapest – sprach Dimitra Alifieraki. Leider fehlte nach den ausführlichen Referaten etwas Zeit, denn darüber, wie einzelne Aspekte von Lukács‘ Denken in der Neuen Linken aufgegangen sind – und andere eben nicht – hätte man noch mehr diskutieren können und sollen.
Auch ästhetische Fragen wurden diskutiert. Philipp Weber führte in Lukács‘ Dostojewski-Lektüren ein und skizzierte eine Theorie des Verbrechers. Über die Kategorie der Besonderheit, die vor allem in der späten Ästhetik eine zentrale Stellung einnahm, sprach Kristin Bönicke, während Jette Gindner sich an einer Aktualisierung des Realismusbegriffs versuchte. Dabei betonte sie, dass es bei Lukács nicht um eine Wiedergabe der Oberfläche geht. Dann stellte sie „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz und „Das nackte Auge“ von Yoko Tawada gegenüber. In der Folge rechnete sie Goetz einem Pseudorealismus zu und attestierte der eher surrealistischen Tawada einen wahrhaften Realismus nach Lukács. Das machte Gindner vor allem an der Perspektive fest, denn Goetz betrachte die Gesellschaft aus den Augen eines Managers, Tawada nehme hingegen den Blick „von unten“ ein. Einzuwenden wäre, dass Goetz weder die Putzkolonnen unerwähnt lässt noch an einer Verherrlichung des bürgerlichen Heldenlebens fortschreibt, sondern ein solches explizit unterläuft und letztlich von seinem Protagonisten kaum mehr als eine „Charaktermaske“ übrig lässt. Lukács ging mit seinem Realismusbegriff über eine bloße Standpunktanalyse hinaus, das wäre auch für die Gegenwart zu berücksichtigen – insbesondere mit einer Analyse der Form und ihrer Dialektik.
Für den Abschluss der Tagung ging Axel Honneth von der Beobachtung aus, dass Lukács von einem Widerspruch zerrissen sei – zwischen Philosophie und Partei, Theorie und Politik. Daraus ergebe sich, so seine Analyse der kommunikativen Situation, dass Lukács manchmal geschlossen und manchmal offen argumentiere, wobei ersteres die Partei sei und zweiteres die bürgerliche Öffentlichkeit. Nun ließe sich davon ausgehend, dass Lukács sowohl die bürgerlichen wie marxistischen und kommunistischen Diskussionen kennt und in beiden auch wirkt, die Frage nach der Haltung revolutionärer Intellektueller erörtern. Doch Honneth begreift es anders, geradezu moralisch. Lukács als Marxist ist für ihn nicht mehr satisfaktionsfähig. Werke wie „Die Zerstörung der Vernunft“ solle und könne man nicht mehr lesen. Das blieb nicht unwidersprochen: Es wird dem historischen Wert – also der ideologiekritischen Aufklärung über das faschistische Denken in der „deutschen Kultur“ nach 1945 – nicht gerecht. Und auch nicht der seit Jahren anhaltenden Debatte, inwieweit die Regression fortschrittlichen Denkens der Reaktion den
Weg bereitet. Das Manöver, Lukács und seine Philosophie der Praxis feinsäuberlich zu zerteilen – in einen marxistischen und einen philosophischen Teil –, ist theoretisch unfruchtbar und politisch fragwürdig. Michael Löwy, aus Paris zugeschaltet, zeigte in seinem kurzweiligen Vortrag, dass Lukács die Formulierung vom „romantischen Antikapitalismus“ nicht nur negativ verwendet habe, was insbesondere seine Äußerungen über Hölderlin als Vertreter einer revolutionären Romantik zeigen. Obwohl Löwy weder weitere Ausführungen über die deutsche Romantik von Lukács noch die durch Stefan George und seinen Kreis zu Lukács‘ Zeiten beförderte Hölderlin-Rezeption weiter berücksichtigte, gab sein Vortrag doch die Anregung, den marxistischen Philosophen an dieser Stelle gegen ihn selbst zu lesen. Videos der Konferenz sind abrufbar unter:
https://www.helle-panke.de/de/topic/3.termine.html?id=3089
Jakob Hayner