Politik im Gespräch
Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann Russland am 24. Februar 2022 einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er stürzte nicht nur in Deutschland die politische Linke in eine Identitätskrise.
In Bezug auf den Ersten Weltkrieg hatte der Philosoph Slavoj Žižek gefragt: „Wie entsteht aus einem halben Jahrhundert Paradies diese Megakatastrophe?“, und viele deutsche Linke sehen sich mit dieser Frage nun erneut konfrontiert.
Aus dem linken und aus rechtem Milieu kamen oft zu schnelle und einfache Antworten auf die Fragen nach den Ursachen der russischen Aggression. Reichen diese Antworten, um den scheinbar plötzlichen Chauvinismus, den aggressiv übersteigerten Nationalismus, die Nichtachtung anderer Nationen, die Dominanz des Militärischen, fehlendes Mitgefühl und Diplomatie zu erklären? Welche Traumata resultieren aus dem imperialen, postkolonialen und aus dem sozialistischen Erbe beider Staaten?
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bewegt die Welt und Europa. Die öffentliche Debatte in Deutschland wird von der Frage nach Waffenlieferungen dominiert. Die Alternativlosigkeit des bewaffneten Kampfes wird von ukrainischer Seite in der Regel mit dem Hinweis auf die Kriegsverbrechen in Butscha, Mariupol oder auf die katastrophalen Zerstörungen der kritischen Infrastruktur wie des Kachovka-Damms bei Cherson oder der Getreidesilos in Odessa begründet. Während es nach wie vor enorm wichtig ist, der Stimme der zivilen Opfer Gehör zu verschaffen und die Solidarität mit der Ukraine aufrechtzuerhalten, ist es angesichts der Schockwirkung apokalyptischer Kriegsbilder nicht weniger wichtig, den Blick auf die künftige Lösung des Konflikts zu richten – so utopisch das im Moment erscheinen mag. Eine Zukunftsvision hängt aber entscheidend davon ab, wie man die Vorgeschichte und die aktuelle Dynamik des Konflikts versteht.
Ausgehend von der Prämisse, dass jegliche Gewalt lange vor ihrem Ausbruch in der Kultur – Kunst und Literatur – sichtbar wird, widmet sich der Vortrag von Prof. Roman Dubasevych den kulturellen Ursachen des Konflikts: den zahlreichen Erinnerungs-, Sprach- und sogar Religionskriegen, die dem russischen Angriff vorausgingen. Der Fokus auf dem relationalen Charakter dieses Konflikts, auf dem gegenseitigen Eskalationspotential, führt nicht nur tief ins Herz des kulturellen Kanons beider Kulturen, sondern auch direkt zur aktuellen Genderdebatte – zu heroischen Männlichkeitsbildern, die die Konfrontation alternativlos und die Positionen der Konfliktparteien kompromisslos gemacht haben.
Mit: Prof. Dr. Roman Dubasevych (Leiter des Lehrstuhls für ukrainische Kulturwissenschaft an der Universität Greifswald und herausragender Kenner der russischen und ukrainischen Literatur)
Moderation: Birgit Pomorin
In Folge #636 von "Jung & Naiv" spricht Tilo Jung mit Roman Dubasevych, das Interview lohnt sich sehr anzuhören.