Konferenz
Veranstalter: Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin in Kooperation mit der Berliner VVN-BdA e.V. und der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte e.V.
Die Tagung hat das Ziel, an die Schicksale deutscher Emigranten und ihrer Familien zu erinnern, die von den 1930er bis zu den 1950er Jahren in der Sowjetunion Opfer staatlicher Repressalien geworden sind. Erst seit den 1990er Jahren werden nach und nach Anzahl und Ausmaß der verfolgten deutschen Antifaschisten bekannt. Seit 1936 sind nach vorsichtigen Schätzungen zwischen 2.000 und 6.000 Deutsche, überwiegend Kommunisten, verhaftet, verbannt und erschossen worden oder verbrachten Jahre im GULAG und verloren dort ihr Leben. Während des Krieges befand sich die Mehrheit der deutschen Emigrantinnen und Emigranten in Straflagern, in der Arbeitsarmee und in Verbannungsorten. Die Exilführung der KPD unterstützte das Vorgehen des NKWD gegen deutsche Politemigranten und war nur selten bereit oder in der Lage, ihren Genossen zu helfen. Erst Mitte der 1950er Jahre, vereinzelt noch später, kehrten die letzten repressierten Politemigranten nach Deutschland zurück. Die meisten entschieden sich, in der DDR zu leben. Sie wurden als Verfolgte des Naziregimes anerkannt und erhielten die damit verbundenen sozialen Vergünstigungen. Zugleich wurden sie verpflichtet, über die in der Sowjetunion erlittenen Verfolgungen nicht zu sprechen. Die an ihnen verübten Verbrechen blieben unbenannt und ungesühnt. Das verordnete Schweigen konnte sich in den Familien fortsetzen oder machte die mitbetroffenen Kinder und Enkel zu stummen Mitwissern.
Freitag, 18. Juni 2010, 18 bis 21 Uhr
Diskussion zum Fernsehfeature Wir Kommunistenkinder von Inga Wolfram mit Ruth Santos geb. Remmele, Claus Bredel, Eugen Ruge
In dem Film folgen fünf Kommunistenkinder den Spuren ihrer Eltern, die nach 1933 in die Sowjetunion flohen. "Die Last der Davongekommenen und die Scham einte die Generation unserer Väter in ihrem Schweigen", sagt Inga Wolfram: "Uns Kommunistenkinder eint die Erfahrung des Schweigens der Eltern, aber auch die Nähe oder Distanz zu dem, was in der DDR politisch lief."
Moderation: Hans Coppi
Eintritt:1,50 Euro
Sonnabend, 19. Juni 2010, 10 bis 19 Uhr
Die verschiedenen Arten des Schweigens
10.00 - 11.00 Uhr Einführung Inge Münz-Koenen
11.00 - 12.30 Uhr Aus der Sicht der Rückkehrer
Carola Tischler: Die Sprache der Akten
Meinhard Stark: Erinnern, Schweigen und Erzählen
Moderation: Oswald Schneidratus
12.30 - 13.30 Uhr Mittagspause
13.30 - 15.00 Uhr Aus der Sicht der Kinder
Podiumsgespräch mit Inge und Alex Glesel, Ulla Plener, Heidi Speer
Moderation: Anja Schindler
"Eigentlich fehlt ein würdiges Gedenken an unsere Angehörigen"
15.30 - 17.00 Uhr Gespräch über das Gedenken
mit Hanna Tomkins, Ines Koenen, Valeri Ripperger und Thomas Flierl
Moderation: Gerd Kaiser
17.00 - 17.20 Uhr Kaffeepause
17.20 - 19.00 Uhr "Gefangen in der Hungersteppe"
Film von Achim Engelberg und Günter Heinzel mit Überlebenden aus dem Karlag (2008) unter Mitarbeit von Wladislaw Hedeler und Meinhard Stark (Autoren des Buches: Das Grab in der Steppe. Karlag. Das Karagandinsker "Besserungsarbeitslager" 1930-1959) in Anwesenheit des Filmteams/der Autoren.
Eintritt:5,00 Euro (Mit Versorgung)
Veranstaltungsort:
Haus der Demokratie, Robert-Havemann-Saal, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
ÖPNV: Tram 4, Bus (200, 240) Haltestelle "Am Friedrichshain"
Ein Bericht zum Thema erschien hier: antifa. Magazín der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur. Juli/August 2010, S. 6.
Walter Ruge hat in der Jungen Welt den Artikel "Verordnetes Schweigen? Anmerkungen zu einer bevorstehenden Tagung in Berlin" veröffentlicht[1].
Andreas Herbst hat im ND vom 23.6.2010, S. 3, einen Bericht zur Konferenz verfasst:
Das Schweigen der Eltern. Kinder von Kommunisten im Sowjetexil erzählten aus ihrem Leben.
Andreas Herbst »Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil Das verordnete Schweigen« war der Titel einer zweitägigen Veranstaltung, zu der VVN-BdA und der Verein »Helle Panke« in Berlin eingeladen hatten. Historiker, Kulturwissenschaftler, Publizisten, Filmemacher, Zeitzeugen und interessierte Bürger diskutierten Folgen des Stalinschen Terrors.Der Robert-Havemann-Saal im Haus der Demokratie und Menschenrechte in der Greifswalder Straße war zum Bersten voll. Es ging um Schicksale deutscher Emigranten und ihrer Familien, die von den 1930er bis zu den 1950er Jahren in der Sowjetunion Opfer staatlicher Repressalien geworden sind. Unter den Teilnehmern viele Kinder und Enkelkinder deutscher, vornehmlich kommunistischer Emigranten, die sehr unterschiedlich und leidenschaftlich ihre Positionen vortrugen.
Unter der Moderation von Hans Coppi sprachen nach der Vorführung der die Tagung eröffnenden Dokumentation »Wir Kommunistenkinder« die Filmautorin Inga Wolfram, Ruth Santos (Enkeltochter und Tochter von Hermann und Helmut Remmele, die 1938 zum Tode verurteilt worden sind), Claus Bredel (Sohn des Schriftstellers Willi Bredel) sowie Eugen Ruge (Sohn des bis 1958 in Verbannung lebenden Historikers Wolfgang Ruge) über ihre Erfahrungen mit an ihren Angehörigen verübten Repressalien. Sie verwiesen auf das verordnete Schweigen, das auch die Kinder und Enkel zu stummen Mitwissern machte. Wenn sie sich denn nicht, früher oder später, dagegen auflehnten wie Margot Kippenberger, Tochter von Hans Kippenberger, dem 1937 erschossenen Leiter des militärpolitischen Apparates der KPD.
Fortgesetzt wurde die Tagung mit einem sehr interessanten und einfühlsamen Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Inge Münz-Koenen sowie Beiträgen der Historiker Carola Tischler (Die Sprache der Akten) und Meinhard Stark (Erinnern, Schweigen und Erzählen). Die Formulierung »verordnetes Schweigen«, so Inge Münz-Koenen (Tochter von Heinrich Koenen, der als Fallschirmspringer über Deutschland abgesetzt, gefasst und 1945 im KZ Sachsenhausen erschossen wurde), könne das volle Ausmaß dieser Schweigepraxis nicht erfassen; sie verkürze diese auf die Verpflichtung der Rückkehrer aus dem Sowjetexil, über das Erlebte nicht zu reden. Damit würde das Schweigen auf einen einmaligen administrativen Akt, eine Anordnung reduziert.
Doch das Verschweigen der Verbrechen geschah auf vielerlei Weise. Es konnte den Rückkehrenden als Desinteresse und Gleichgültigkeit der Behörden begegnen. Teils wurden die Remigranten aber auch von den Genossen der SED die für sie vielfach noch »meine Partei« war aufgefordert, vertrauensvoll alles niederzuschreiben, was sie in Gefängnis, Lagerhaft und Verbannung in der Sowjetunion erlebt hatten, um das Geschriebene dann in Panzerschränken verschwinden zu lassen nur zum internen Gebrauch gedacht. In den veröffentlichten Tagebüchern und Lebensläufen zurückkehrender Emigranten wurden die Jahre der Repression ausgeblendet. Die geläufige Floskel lautete stets: »... war in den Jahren 1937 bis 1956 am sozialistischen Aufbau in der SU beteiligt«. In den offiziellen Geschichtsdarstellungen der DDR hat es deutsche Antifaschisten als Arbeitssklaven im Gulag oder gar als Todesopfer des Staatsterrors in der Sowjetunion über Jahrzehnte nicht gegeben.
In drei weiteren Diskussionsrunden unter der Moderation von Anja Schindler, Oswald Schneidratus (Sohn des zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilten Werner Schneidratus) und Gerd Kaiser tauschten Kinder deutscher Kommunisten ihre Geschichten und Erfahrungen aus, auch Auseinandersetzungen, die sie mit ihren Eltern hatten. So berichtete Ingel Glesel (Tochter des KPD/SED-Spitzenfunktionärs Walter Hähnel), wie sie ihre Eltern in der DDR immer wieder fragte, warum sie über die dunklen Seiten des Exils nicht sprechen wollten und welchen Anteil sie an den Repressalien hätten. Das Fazit der Tochter: Diese Partei könne nicht die ihre sein. Ihr Mann Alex Glesel, Sohn des in der Sowjetunion ermordeten Schriftstellers Samuel Glesel) berichtete, wie er 1955 in die DDR kam und im ZK der SED aufgefordert wurde: »Was Du und Deine Familie in der Sowjetunion erlebt haben, das behältst Du für Dich!«.
Ganz anders der Bericht von Andrej Reeder, Sohn von Gabo Lewin, der vom NKWD verhaftet wurde und 18 Jahre im Arbeitslager war. Seinen 1936 geborenen Sohn sah er erst als Erwachsenen wieder. Andrej Reeder hat erst jetzt in Moskau Einsicht in NKWD-Akten bekommen; er bemüht sich, das Leben seiner Eltern in allen Widersprüchen zu rekonstruieren. Ruth Santos informierte über ihre Probleme, in der DDR heimisch zu werden: In der Sowjetunion wollte man keine Deutsche sein, in der DDR keine Russin.
Wie nicht anders zu erwarten war, diskutierte auch das Publikum kontrovers. Ist von verordnetem oder selbst verordnetem Schweigen zu reden, von Scham wie auch vom Recht auf Schweigen und Verdrängen? Irene Runge mahnte, die nicht kommunistischen jüdischen Emigranten nicht zu vergessen. Schließlich ging es auch um die Frage, wie der Opfer des Stalinismus angemessen gedacht werden könne, wer zu den willkürlichen zu zählen sei und wer zugleich Täter und Opfer gewesen ist. Ist der Gedenkstein auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde eine angemessene Form des Gedenkens, fragten sich Hanna Tomkins, Ines Koenen (Tochter von Inge Münz-Koenen), Valerie Rippberger und Thomas Flierl.
Mit dieser Tagung ist das Thema nicht abgeschlossen. Der Arbeits- und Gesprächskreis »Schicksale von in der sowjetischen Emigration verfolgten deutschen Antifaschisten« beim Vorstand der Berliner VVN-BdA arbeitet weiter und steht allen Interessierten offen.
VVN/BdA, Stiftung Haus der Demokratie e.V.