Vielfalt sozialistischen Denkens
Mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Industrialisierung entsteht im frühen 19. Jahrhundert aus verarmten Handwerkern, städtischem Pöbel, umherziehenden ländlichen Unterschichten, bankrotten Adligen und nicht zuletzt freigesetzten prekären Intellektuellen jenes neue soziale Kollektiv, das man in der Sprache der Zeit bald das Proletariat nennen wird. Allerdings existierte das Proletariat zunächst noch nicht als die formierte, homogene (Arbeiter-)Klasse mit angeschlossenen politischen Parteien, wie das heute aus der Tradition des Marxismus und der Kommunistischen Bewegung bekannt ist. Im Gegenteil, das Proletariat war eine buntscheckige Erscheinung und bestand aus Gestalten, die, allen ständischen Sicherheiten entrissenen, ihre Träume und Sehnsüchte zunächst nicht in den großen sozialistischen Organisationen artikulierten, sondern in neuen Formen des Erzählens, in romantischen Novellen, Reportagen, sozialstatistischen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren von den Vordenkern der Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchisch verunglimpft, weil sie nicht in die große lineare Fortschrittsvision passen wollten.
In seiner bahnbrechenden Studie Die Poesie der Klasse, die im Juli erscheinen wird, verhilft Patrick Eiden-Offe dem lange verdrängten romantischen Antikapitalismus zu seinem Recht und befreit die Klasse von den vorherrschenden Vorstellungen. Dabei wird nicht zuletzt deutlich, dass die historische, poetisch besungene unordentliche Klasse den heutigen Figuren von Prekarität nach dem Ende der alten Arbeitsgesellschaft verblüffend ähnlich ist.
Patrick Eiden-Offe wird zunächst die Poesie des Proletariats und ihre romantische Form des Antikapitalismus vorstellen. Anschließend wollen wir mit ihm über die Prozesse der Formierung, Homogenisierung und Disziplinierung reden, durch die das Proletariat zu der Klasse wurde, sowie über die aktuelle Situation - etwa über die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Rechtspopulismus und der Vernachlässigung der Klassenfrage gibt.
Referent: Dr. habil. Patrick Eiden-Offe (Literaturwissenschaftler, arbeitet am Leipnitz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) zu Georg Lukács)
Moderation: Dr. Frank Engster
Die Veranstaltung ist eine Kooperation von Helle Panke e.V., Buchladen Schwankende Weltkugel und Café Morgenrot.