Tegeler Dialoge zur Demokratie
Referentin: Prof. Dr. Karin Kulow
Moderation: Dr. Klaus Gloede
Also ehrlich: Die Älteren unter uns, auch wenn sie sich nicht als Christen betrachten, kriegen das Vaterunser, die zehn Gebote und vielleicht das christliche Glaubensbekenntnis noch so leidlich zusammen. Aber die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis? Die Muslime beten und sie essen anders, als wir es von unseren Christen kennen, sie fasten im Ramadan, und fast noch befremdlicher: annähernd 80 Prozent unserer muslimischen Miteinwohner nehmen ihre religiösen Pflichten sehr ernst.
Und dann also diese Frage, ob uns der Islam wirklich fremd sei? Prof. Dr. Karin Kulow, Arabistin und Islamwissenschaftlerin mit langjährigen praktischen Erfahrungen, verblüffte tatsächlich mit der Aussage, man solle nicht nur vom jüdisch-christlichen Abendland reden; es sei durchaus auch muslimisch. Alle drei Religionen seien Offenbarungsreligionen, sie glauben an einen alleinigen Schöpfergott. Ihr höchster Segenswunsch hat den gleichen Sinn: Scholem alejchem, Salam aleikum, Friede sei mit euch.
Die Anhänger aller drei Religionen ehren den biblischen Erzvater Abraham als Ahnen. Das islamische Frauenbild stammt aus der Bibel. Die Muslime erkennen Jesus als wichtigen Propheten an, wenngleich nicht als Erlöser. Und sie meinen, dass Juden und Christen als Kinder des Buches - wenn sie denn nach ihrem Glauben leben - auch ohne Bekehrung in den Himmel kommen. Im Übrigen führen wir unsere Kontobücher mit arabischen Ziffern und nutzen arabische Algebra und Logarithmen. Das europäische Erbe enthält vieles aus dem arabischen Raum.
Ja, aber die Phase der Aufklärung, die zur Trennung von Religion und Staat und zu geistiger Freiheit führte, habe die islamische Welt erst noch vor sich? Entschuldigung, sagt Prof. Kulow, aber Voltaire, Diderot & Co. standen auf den Schultern von Ibn Sina (lat. Avicenna, 980 -1037) und Ibn Ruschd (lat. Averroes, 1126 - 1198), die den vergessenen Aristoteles nach Europa zurückbrachten, wobei Averroes zudem die Ketzerthese aufstellte, es gäbe neben der göttlichen noch eine wissenschaftliche Wahrheit.
Ungefähr fünf Prozent der in Deutschland lebenden Menschen bekennen sich zum Islam. Wieso befürchten viele Deutsche, dass ein gedeihliches Miteinander auf Dauer nicht möglich sei und Deutschland sogar Geisel in einem Krieg der Kulturen werden könne?
Tatsächlich wechseln in unseren Medien das Gewalt-Gen bei den Muslimen und das Faulheits-Gen bei den Hartzgeldbeziehern schubweise als Gegenstand der Nachrichtengebung ab. Wer bei voraussehbaren sozialen Verwerfungen im Trüben fischen will, muss rechtzeitig Prügelknaben bereit stellen. Gefahr gehe immer von denen aus, die politische, ökonomische und soziale Fragen in ethnische, religiöse oder kulturelle umdeuten, so Prof. Kulow, und die aus Einzelerscheinungen einen Generalverdacht gegen ganze Bevölkerungsgruppen machen.
Hans Schuster
In: Wir in Reinickendorf 3/2010