Von: Mario Keßler
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 112, 2008, 36 S., A5, 3 Euro plus Versand
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Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 112, 2008, 36 S., A5, 3 Euro plus Versand
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INHALT
Die Novemberrevolution: Nur eine deutsche Angelegenheit?
Ein neuer Akzent: Die Räte als Gegenstand des Interesses
Albert Schreiner und die Debatte zur Novemberrevolution in der DDR
Rätedemokratie und Parlamentarismus in der deutschen und internationalen Forschung
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LESEPROBE
Die Novemberrevolution: Nur eine deutsche Angelegenheit?
Aber wie schon Marx sagte, die Menschen machen ihre Geschichte selbst, und die russischen Revolutionäre waren beim Machen ihrer Geschichte wirklich ganz auf sich selbst angewiesen, und so machten sie ihre Geschichte nicht so gut, wie es trotzdem möglich gewesen wäre, sondern in vielem unsäglich schlechter. Aber machten wir Deutschen unsere Geschichte nicht noch viel schlechter? Wir brachten 1919 keine Revolution zustande, wir brachten 1933 keine Einheitsfront gegen Hitler zustande, wir versanken in der entsetzlichen Barbarei des Faschismus. Unsere Aufgabe ist nicht, zu verurteilen, sondern zu lernen, die Zusammenhänge zu begreifen, die Tragik der russischen Entwicklung zu verstehen.[1]
Die deutsche Novemberrevolution von 1918 galt als eine ungeliebte Revolution. Keine der Parteien der Weimarer Republik vermochte sich mit ihren Ergebnissen zu identifizieren. Die Nazis und die konservativ-nationalistische Rechte lehnten die Revolution in Bausch und Bogen ab, doch auch die republiktreuen Parteien, vor allem die SPD, taten sich mit ihrem Erbe schwer. Bereits im Jahre 1921 hatte Eduard Bernstein in einem frühen Rückblick auf die Revolution jedes unüberlegte Eingreifen in die Grundlagen der volkswirtschaftlichen Unternehmungs- und Verkehrsverhältnisse, das zum Kern der sozialen Forderungen geworden war, entschieden zurückgewiesen,[2] und acht Jahre später hatte der damalige Reichskanzler Hermann Müller in einem Erinnerungsbuch zur Novemberrevolution alle Forderungen einer Nationalisierung der Schlüsselindustrien als in der Tendenz Experimente nach russischem Muster be- und verurteilt.[3]
Die KPD hatte hingegen 1929 in ihrer Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution festgestellt: Alle Voraussetzungen für den Sieg der proletarischen Revolution waren im November 1918 gegeben, bis auf eine bis auf die in den Massen verwurzelte revolutionäre Partei und die eigene revolutionäre Erfahrung der Massen. Die Arbeiterräte seien zumeist nach den Absichten der reformistischen Führer zusammengeflickt worden. Anfänglich politische Machtorgane der Revolution, wären sie unter dem Einfluss der Reformisten zu bloß formellen Kontrollorganen der noch nicht zerstörten alten Staatsmacht degradiert worden.[4]
Den gegensätzlichen Auffassungen der SPD- und KPD-Autoren war somit die Fixierung auf das sowjetische Experiment als abschreckendes Beispiel oder als Vorbild, jedenfalls als Maßstab für die sich im November 1918 spontan in Deutschland bildenden Räte gemeinsam. Ihren Widerhall findet diese Konstellation noch in der Auseinandersetzung um den Charakter der Novemberrevolution, die unter DDR-Historikern im Jahre 1958 geführt wurde. Diese Auseinandersetzung ist in der neueren Forschung zu Recht als eines der Beispiele für die Durchsetzung der parteiamtlichen Auffassung innerhalb einer laufenden wissenschaftlichen Debatte benannt worden. Ebenso wurde festgehalten, dass die so entstehende Geschichtswissenschaft in der DDR Teil einer gebundenen Wissenschaftskultur war. Doch setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass eine solche Wissenschaft nicht nur mit Zwang und durch Vorgaben funktionierte, vielmehr entwickelte sie selbst Leitbilder und stellte diese in den Dienst der von der Parteiführung und ihrem Apparat gewünschten und betriebenen Geschichtspolitik, was ein durchaus diskontinuierlicher Prozess war.[5] Auch dies ist am Beispiel der Debatten über die Novemberrevolution, in die Walter Ulbricht 1958 persönlich und autoritativ eingriff, gezeigt worden.[6]
Kaum Aufmerksamkeit wurde dabei erstaunlicherweise der Frage geschenkt, wieweit diese DDR-internen Debatten in die internationale, nicht nur in die bundesdeutsche Diskussion zur Novemberrevolution einzuordnen sind. Dies ist nicht nur für die Gegenwart ein Desiderat der Forschung, denn allein durch ihre politischen Weichenstellungen war diese Revolution keine nur deutsche Angelegenheit. Die über Jahrzehnte hinweg in den USA und England publizierte Literatur zur Novemberrevolution wurde jedoch in der DDR wenig gelesen. Wolfgang Ruge, der Russisch und Englisch beherrschte, war eine der Ausnahmen. Der sowjetische Diskussionsstand fand jedoch ebenfalls nur selten Eingang in die Arbeiten west- und selbst ostdeutscher Forscher. Gerade um die internationalen Debatten und zwar mit dem Schwerpunkt der damals als eigenständige Richtung entstehenden Räteforschung geht es deshalb im Folgenden. Als Ausgangspunkt werden die in der Bundesrepublik wie in England und den USA nach 1956 gewissermaßen entdeckten Arbeiter- und Soldatenräte genommen. Daran anschließend sollen die DDR-Debatten zur Novemberrevolution im Zusammenhang mit der entsprechenden sowjetischen Diskussion rekapituliert werden. Hier ging es nicht, wie oft angenommen wird, nur um den Charakter der Revolution, sondern auch um den Stellenwert der Arbeiter- und Soldatenräte in ihr. Zuletzt wird ein kurzer Ausblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Arbeiten aus der DDR, der Bundesrepublik und angelsächsischer Forscher gewagt.[7]
[1] Robert Havemann, Fragen, Antworten, Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, Berlin 1990, S. 57.
[2] Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution. Geschichte und Entstehung der ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik, neu hg. von Heinrich August Winkler unter Mit-arbeit von Teresa Löwe, Berlin 1998, S. 242.
[3] Hermann Müller, Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1929, S. 281.
[4] Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929, S. 512 f.
[5] Vgl. u.a. Martin Sabrow, Das Diktat des Konsens. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 1969, München 2001; Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln etc. 2003. Die Ergebnisse der DDR-Wissenschaft ihrer Frühzeit diskutiert stärker Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln etc. 2001. Die parteiamtlichen Vorgaben und ihre Umsetzung stehen im Mittelpunkt bei Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR, Berlin 1997. Aus der Innensicht der DDR-Historiker sind hervorzuheben Fritz Klein, Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2000; Helmut Bock, Wir haben erst den Anfang gesehen. Selbstdokumentation eines DDR-Historikers 1983 bis 2000, Berlin 2002; Kurt Pätzold, Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers, Berlin 2008.
[6] Vgl. Ernst Laboor, Zum Abbruch der Diskussion über den Charakter der Novemberrevolution, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung [BzG], 37, 1995, S. 69 82; Joachim Petzold, Meinungsstreit im Herrschaftsdiskurs, in: Martin Sabrow (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln etc. 2000, S. 287 314; ders., Parteinahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, Potsdam 2000, S. 115 161; Jürgen John, Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002, S. 43 84.
[7] Die Konzentration auf diese Fragen soll die Leser dieser Zeilen vor dem etwaigen Missverständnis schützen, hier werde ein umfassender Literaturbericht über die Veröffentlichungen zur Novemberrevolution vorgelegt. Vgl. die im Zehnjahresabstand publizierten Bände: Historische Forschungen in der DDR. Analysen und Berichte, Berlin 1960 (zur Novemberrevolution: Helmut Kolbe, S. 325 343), 1970 (Hans-Joachim Fieber/Heinz Wohlgemuth, S. 508 514), 1980 (Siegfried Ittershagen/Kurt Wrobel, S. 230 240). Vgl. Udo Bermbach, Revolution und Rätebewegung 1918/19, in: Neue Politische Literatur, 16, 1971, S. 575 580; Eberhard Kolb (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, bes. die Beiträge von Helga Grebing sowie des Herausgebers. Vgl. weiterhin zur Kritik der bundesdeutschen Forschung in der DDR Gerhard Meisel, Novemberrevolution 1918 in Deutschland, in: Gerhard Lozek u.a. (Hg.), Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD, 3. Aufl., Berlin 1977, S. 594 606. Vgl. umgekehrt Lutz Winckler, Die Novemberrevolution in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 21, 1970, S. 216 234; Alexander Decker, Die Novemberrevolution und die Geschichtswissenschaft in der DDR, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung [IWK], 10, 1974, S. 269 299; Renate Reuther, Die Weimarer Republik im Urteil der DDR-Geschichts-wissenschaft. Kontinuität und Wandel, Phil. Diss., Universität Erlangen-Nürnberg 1988, S. 11 20 und 208 230. Zur Wirkung der jeweiligen Geschichtsbilder in der schulischen Bildung vgl. Matthias Steinbach/Andrea Mohring, Entweder regiert Ebert oder Liebknecht. Zum Umgang mit der Revolution von 1918/19 in Schulbuch und Unterricht. Skizze eines deutsch-deutschen Vergleichs, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 28 (2000), S. 184 200. Vgl. weiterhin Matthias Steinbach, Gefühle im historischen Konflikt. Zum Umgang mit der Novemberrevolution im Schulbuch, in: Michael Zöller (Hg.), Vom Betreuungsstaat zur Bürgergesellschaft kann eine Gesellschaft sich selbst regeln und erneuern?, Köln 2000, S. 159 169. Zur Forschungslage insgesamt vgl. Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik. Oldenbourg Grundriss der Geschichte 16, München 1984, 6. Aufl. 2002, S. 166 178; Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft. Enzyklopädie deutscher Geschichte 58, München 2000, S. 51 59.